Begegnungen, die verbinden

Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte (btb Verlag)

Wenn ich meine Eindrücke über das Buch kurz zusammenfassen will: Es ist aus unheimlich schönen Sätzen zusammengesetzt, die zwar über Traurigkeit, Schmerz und schicksalhaftes Dasein in einer grauenhaften Welt erzählen, tun das aber mit einer innigen und liebevollen Stimme.

krawatte

Ein Buch lebt in seinen Sätzen.

„Ich wollte niemandem begegnen. Jemandem begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Fäden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden.“ (3)

Was für schöne Sätze für einen Auftakt! Um dann bald sagen zu können:

„Heute begreife ich, dass es unmöglich ist, jemandem nicht zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden.“ (7)

Durch solche Sätze lernen wir die Geschichte einer Begegnung kennen, aus der Perspektive eines Protagonisten, des jungen Japaners, eines „Hikikomori“. Als Hikikomori (der Worterklärung nach am Ende des Buches) bezeichnet man in Japan junge Menschen, die sich von der Welt verstecken, sich in ihrem Zimmer einschließen. Der Grund ist meist der große Leistungs- und Anpassungsdruck in Schule und Gesellschaft.

Die Geschichte erzählt, wie Taguchi Hiro aufbricht, sein Zimmer verlässt, dann jemandem begegnet. Er lernt wieder zuhören, er findet seine Stimme… Die Begegnung soll auch zur Befreiung werden, doch jeder Satz trägt das Gewicht, die Schwierigkeit dieser Umwandlung, ohne zu versprechen, dass diese am Ende gelungen wird. Der Weg führt metaphorisch beladen durch Spalten, Rissen, Wegen, Zugfahrten, Spuren, Fäden.

In diesem Buch erhalten Begegnungen, Verabschiedungen, Stimmen, Aussagen, Verschweigen, darüber hinaus das Sprechen, die Stille und das Zuhören große Bedeutung. Die gesagten Sätze führen die Protagonisten durch ihr Leben, sie sind ihre Wegweiser. Die Sätze, mit denen sie ihre Gegenwart beschreiben, drücken ihre Vergangenheit und ihre Zukunft aus.

Doch wie kann man aus fehlgeschlagenen Sätzen, aus dem Wegschauen, oder aus der Schicksalhaftigkeit ausbrechen? Kann der Hikikomori, kann man sein Leben ändern? Wieso sollte jedoch alles schief gehen, wenn die Menschen einander lieben?

„Ich war ein Glas, ein zerbrochenes, und der Raum, den ich einst umfasst hatte, war nun eins mit dem Raum herum. Öde Weite, in der ich mich verlief, unter den Füßen scharfe Messer. Mit jedem Schritt wurde es unwahrscheinlicher, irgendwann einmal irgendwo anzukommen.“ (66)

Der Leser muss zuhören: zu diesen Sätzen zum Beispiel kommt aus einem Tempel dröhnend das Herzsutra (65), Teil der buddhistischen Schriften: Form ist Leere, Leere ist Form. Der Roman enthält aber nicht nur Fragen und Tränen der Verzweiflung, sondern auch Lehre, Sätze zum Mitnehmen, und reichlich. Solche (die folgenden äußert ein Musiklehrer, dessen Frau im Sterben liegt. Er redet in erster Linie über Liebe im Schatten des Todes):

„Wenn es irgendetwas für dich zu lernen gibt, dann nur, dass du dich nicht schämen sollst. Schäm dich nur ja nicht dafür, ein Mensch mit Gefühlen zu sein. Egal, was es ist, fühl es innig und tief. Fühl es noch ein bisschen inniger, fühl es noch ein bisschen tiefer. Fühl es für dich. Fühl es für den anderen. Und dann: Lass es gehen.“ (79)

Milena Michiko Flašar schreibt Sätze, die auch ohne das Buch, die Erzählung, ganz alleine in sich existieren und für sich stehen.

7 Kommentare Gib deinen ab

  1. Adriano Eljero sagt:

    Und ich hatte bei all den Büchern in Bestseller-Listen, Buchläden wie Thalia und Co. schon langsam das Gefühl bekommen, dass es keine schönen Bücher mehr gibt, in denen nur von einem Konflikt zum nächsten „gerushed“ wird.
    Aber deine kleine Rezension hier hat mich direkt inspiriert, dieses Buch zu kaufen, denn das ist die Art von Buch, die ich lesen möchte und auch hoffentlich selbst zu schreiben schaffe:
    „Milena Michiko Flašar schreibt Sätze, die auch ohne das Buch, die Erzählung, ganz alleine in sich existieren und für sich stehen.“

    Gefällt 2 Personen

    1. Ich freue mich sehr darüber, dass meine Gedanken dich inspiriert haben. Mit den Sätzen bin ich auch so. Das Buch „Ich nannte ihn Krawatte“ findest du vielleicht auch in einer Bibliothek. Und in diesem Jahr ist ein neues Buch von der Autorin erschienen. http://www.milenaflasar.com/buecher/ich-nannte-ihn-krawatte/. Es ist nicht einfach das Buch zu finden, das man wirklich mag. Ich fange viele zeitgenössische Bücher ganz begeistert an zu lesen, halte sie für gut oder nicht so gut, aber sehr selten sage ich, dass ein Buch schön sei. Das Lesen des „Ich nannte ihn Krawatte“ machte mich sogar ein bisschen verzweifelt, sehr bedrückt, doch werde ich es nochmal lesen.

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      1. Adriano Eljero sagt:

        Ich hab‘ es mir längst bestellt (lach). Bin sowieso kein Fan vom Ausleihen. Ich habe Bücher gerne im Regal stehen, so kann man nach einiger Zeit wieder über den Einband streichen und sich erinnern. Ich hoffe, dass nie aufgehört wird, Bücher zu drucken. E-Books sind einfach nicht das Gleiche. Aber wie auch immer – Danke für die Buchempfehlung, kam schienbar gerade zur rechten Zeit bei mir.

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      2. 🙂 So ist aber meine Verantwortung größer (lach).

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      3. Adriano Eljero sagt:

        Die 8 Euro Taschenbuch Kauf Verantwortung bei Amazon – Dieser Verantwortung ist nicht jeder gewachsen (lach).

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  2. In der Tat sehr begeisternd Sätze. Danke Dir für die schöne Empfehlung.

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    1. Freut mich sehr. Vielen Dank für deinen Kommentar.

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